Der hier veröffentlichte Originaltext von Johanna “Klavier und Seife” erscheint in einfacherer Sprache auch in der Printausgabe vom Mai 2021 auf der Kinder- und Jugendseite (Seite 9) von ArrivalNews und wurde von Verena Solleder illustriert und um ein Zahlenrätsel ergänzt. Der gekürzte Text ist auf https://www.arrivalnews.de verfügbar. Ihr könnt Euch den Text sogar vorlesen lassen: https://soundcloud.com/arrivalnews
Geschichte des Monats: Klavier und Seife
von Johanna S., 12 Jahre (Alter zur Zeit der Texterstellung)
Die Äste knarzten. Der Regen prasselte auf die Blätter. Der Wind pfiff durch die Bäume. Im ganzen Wald stürmte es gewaltig. Jennifer sah es vor sich, als würde sie selbst in diesem Sturm stehen. Sie fühlte die Kälte, hörte den Wind und schmeckte den Regen.
Jennifer war sehr vertieft in das Klavierspiel. Sie spürte auch die Tasten unter ihren Fingern: leicht und zart wie ein Blatt, das zu Boden segelt. Oder laut und hart wie ein Donner. Sie merkte nicht, dass ihre Mutter ins Wohnzimmer kam. Sie merkte es erst, als sie eine Hand vor ihrem Gesicht sah. „Jennifer, ich gehe los.“ Das Mädchen sah auf. „Gehen?“, fragte sie verwirrt. „Ja, gehen. Ich muss für ein paar Tage auf Dienstreise. Hast du das vergessen?“ „Ach ja!“ Jennifer ging mit ihrer Mutter zur Haustür und verabschiedete sich. Als sie ihre Mutter nicht mehr sah, schloss sie die Tür. Sie ging zurück ins Wohnzimmer. Auf dem Weg fühlte sie, dass etwas nicht stimmte.
Plötzlich gab es einen lauten Knall im Wohnzimmer. Danach hörte sie es scheppern. Dann einen kurzen und lauten Schrei: „Aua!“ Ein älterer Mann mit schwarzen Haaren kam fluchend aus der Küche. Er hüpfte auf einem Bein. „Diese verfluchten Töpfe“, schimpfte er. Die Töpfe waren ihm auf den Fuß gefallen. Er sah einen seiner Zehen an. Sehr gefährlich sah der Typ nicht aus. Als Jennifer den ersten Schreck überwunden hatte, räusperte sie sich laut. Der Mann blickte auf und erstarrte, als er sie sah. Im nächsten Moment lächelte er und kam auf sie zu. Dabei hatte er seine Hand ausgestreckt. Er nahm ihre Hand und schüttelte sie energisch. „Richard Grant“, stellte er sich vor. „Hab keine Angst! Du kannst mich duzen.“
Jennifer nickte unsicher. „Ich heiße Jennifer Smith.“ Richard Grant war auch etwas unsicher. „Bist du alleine zu Hause? Ich meine, können wir in Ruhe sprechen?“ Das Mädchen wurde misstrauisch. „Meine Eltern sind nicht da. Mein großer Bruder kommt gleich nach Hause.“ „Okay, du willst bestimmt wissen, warum ich hier bin…“ Jennifer nickte. Ihr Misstrauen war verschwunden. „Und wie Sie, ich meine du, hierhergekommen bist!“ „Wie ich hergekommen bin?“ Richard Grant sah sie fragend an. „Ja natürlich! Ich meine, es gab einen Knall und du warst plötzlich in unserer Küche!“ „Ach ja!“ Richard Grant wurde verlegen. „Das nennt man ‚Schwenken’. Es dauert sehr lange, es zu lernen. Man muss fest an einen Ort denken und dann ist man da. An diesem Ort hört man seine Lieblingsmusik. Meine Lieblingsmusik ist ‚Für Elise‘“, sagte er. „Dann bist du also ein Zauberer???!“, fragte Jennifer. „Oh ja!“, sagte Richard Grant. „Ich bin ein Zauberer!“ Das Mädchen blinzelte. Es machte sie sprachlos, dass es Zauberer wirklich gab. Und, dass einer in ihrem Wohnzimmer stand. Richard Grant erklärte: „Ich bin hier, weil dein Ur-Ur-Ur-Ur-Ur-Großvater auch ein Zauberer war. Du hast auch noch ein bisschen Magie in dir, da bin ich mir sicher. Sie ist nur sehr schwach, sodass du sie nicht benutzen kannst. ABER!“, er hob seinen Zeigefinger und holte 2 Seifen aus seiner Tasche.
„Eine Seife?“ Jennifer runzelte die Stirn. „Du musst dir damit nur die Hände waschen. Deine Kräfte werden 10-mal stärker werden!“ – „Oookaaay, und wie sehen meine Kräfte aus?“ – „Du spielst doch gerne Klavier, oder?“, fragte Richard Grant. „Ja, sehr gerne“, sagte Jennifer etwas überrascht. „Kannst du dir immer alles gut vorstellen? Also ich meine, fühlst du mit der Musik? Bist du wie in einer anderen Welt?“ „Ja, und wie!“ Jennifer erinnerte sich, dass sie vorhin sehr vertieft in das Klavierspiel war. So vertieft, dass sie einen Sturm gespürt hat. Jetzt war Jennifer neugierig. „Na, dann spiel mir mal was vor. Aber zuerst wäschst du dir die Hände mit der Seife, okay?“ Jennifer betrachtete die Seife misstrauisch. Sie nahm die Seife und ging ins Bad. Nachdem sie sich die Hände abgetrocknet hat, fingen ihre Finger an zu kribbeln. Das Mädchen lief zurück ins Wohnzimmer und setzte sich ans Klavier. Die Noten ihres Lieblingsstücks lagen noch da. Es hieß „Der Sturm“. Jennifer begann zu spielen.
Es war fantastisch! Eine leichte Brise wurde immer stärker bis zu einem kräftigen Sturm! Der plötzliche Wandel des Wetters war verblüffend. In Sekundenschnelle ballten sich riesige Gewitterwolken zusammen. Der Wind rüttelte am ganzen Haus und Jennifer vergaß alles um sich herum. Es gab nur noch die Musik. Sie kehrte erst wieder in die Wirklichkeit zurück, als sie eine Hand auf ihrer Schulter spürte. Das Mädchen blickte auf und hörte auf zu spielen. Das Gewitter flaute langsam ab. „Wow!“, sagte Richard Grant beeindruckt. „Und du bist nicht außer Puste?“ „Nein“, antwortete Jennifer. „Ich könnte ewig so weiterspielen!“ Sie dachte nach und fragte: „War das Gewitter echt oder habe ich mir das nur eingebildet?“
Richard Grant lächelte und schloss den Deckel des Klaviers: „Das war echt! Und wirklich beeindruckend! Ich würde sagen, du machst jetzt eine Pause.“ Mit einem raschen Blick auf die Uhr sagte er: „Es ist schon spät. Ich muss dann los. Aber ich verspreche dir, dich wieder zu besuchen. Und dann erfährst du mehr von deiner Magie!“ Sie schüttelten zum Abschied die Hände. „Gerne“, sagte Jennifer. „Ich freue mich darauf.“ Richard lächelte ihr noch einmal zu. Damit verschwand er. Es schwebten noch ein paar leise Töne von ‚Für Elise‘ durch die Luft…