Mission 16

von Lilith

 Das laute Klingeln meines Telefons riss mich aus dem so wohlverdienten Nickerchen, das ich mir auf meinem Schreibtisch genehmigt hatte. Ich nahm mein Handy in die Hand und der Name ,Frau Martinson` war auf ihm zu sehen. Ich seufzte. Am liebsten hätte ich mich wieder auf den gerade so gemütlich aussehenden Aktenstapel vor mir hingelegt, doch meine Chefin wegzudrücken, war nicht die beste Idee. „Hallo!“, sprach ich gespielt enthusiastisch in den Hörer. Miss Martinson sollte den guten Eindruck, den sie von mir hatte, nicht verlieren. „Kate, gut dass ich Sie erreiche. Sie befinden sich gerade im Büro?“ „Ja“, antwortete ich, obwohl mir nicht klar war, ob das eine Frage war. Das GPS, das ich in meinem Arbeitshandy hatte, verriet ihr immer meinen Standort. Ganz geheuer war mir das nicht, doch es gehörte zu meinem Job. Als Geheimagentin konnte es schonmal passieren, dass man in Schwierigkeiten mit den falschen Leuten geriet. In diesen Situationen war es von Vorteil, dass meine Vorgesetzten wussten, wo ich mich befand. „Sie haben sicher schon gehört, dass ein neuer Fall zu vergeben ist.“ „Und ob ich das hatte“, dachte ich. In meiner Abteilung hatte sich die Nachricht verbreitet wie ein Lauffeuer. Jeder wollte mal wieder etwas Spannendes erleben, als nur den ganzen Tag vor Akten zu sitzen, wie auch ich es schon seit Monaten tat. Der Nervenkitzel war nun einmal ein Gefühl, das ich zum Überleben brauchte. Ich sehnte mich nach meiner sechzehnten Mission. „Deswegen habe ich gleich an Sie gedacht.“ Die raue Stimme von Miss Martinson riss mich aus meinen Gedanken. Ein wenig vom Gespräch hatte ich wohl schon verpasst. „Nehmen Sie den Job an? Ja? Ich schicke Ihnen die notwendigen Infos.“ Ich nickte, was Frau Martinson natürlich nicht sehen konnte. Mein Herz raste; endlich wieder ein neuer Fall. „Danke“, antwortete ich nun ehrlich enthusiastisch, doch meine Chefin hatte schon aufgelegt. Wenig später erhielt ich eine verschlüsselte E-Mail von dem Büro meiner Vorgesetzten. Alles musste diskret und geheim verlaufen. Mit einem breiten Grinsen druckte ich mir die Akte aus und begann zu lesen. Doch ich war viel zu aufgeregt und meine Augen flogen nur so über die Papiere. Die Schlagworte ‚Übergabe‘, ‚Umschlag‘ und ‚Firma‘ stachen besonders heraus. Das würde lustig werden!

 Drei Tage nachdem Miss Martinson mich informiert hatte, saß ich schon in einem Hotel in New York. Meine Aufgabe war es, den Lieferanten eines bekannten ‚Underground Business‘ zu beschatten. Die Schlagzeilen, die man zurzeit in der Zeitung las, waren, dass diese Firma namens Birfit Unmengen von Geld verdiente. Mit illegalen Geschäften? Zumindest gab es einen Verdacht, daher sollte ich bei einer möglichen Übergabe von Geschäftsunterlagen dabei sein. In einem Pub in der Street 45 sollte sie stattfinden. Inkognito, wie ein Zivilist gekleidet, rief ich mir ein Taxi, die es in New York in Unmengen gab. Es war ein Dienstag, 14 Uhr und die meisten Menschen gingen gerade ihrer geplanten Routine nach. Ich fuhr eine ganze Weile, bis ich schließlich in einer zwielichtigen Gegend ankam. Mein Taxi hielt und ich stieg aus. ,Party Pub´ prangte in grellen, lila Buchstaben an dem Gebäude vor mir. Wie eine Touristin schlenderte ich hinein und setzte mich an einen Ecktisch, von dem aus ich alles im Blick hatte. Minuten vergingen und ich versuchte jeden Gast, der in der Kneipe war, im Auge zu behalten. Es waren nicht viele, doch meine Augen huschten trotzdem hin und her, als ein rot gekleideter Mann, der am Tisch vor mir saß, den Kaugummi aus seinem Mund nahm und ihn mit etwas Weißem, was ich nicht ganz erkennen konnte, unter den Tisch klebte. Er wartete ein paar Minuten, starrte dabei auf sein Handy und ging dann. Ich zögerte. Sollte ich aufstehen? Mich hinwagen? Meine Neugier war erwacht und ich hatte den Druck, abliefern zu müssen. Die Türglocke des Pubs klingelte und ein ebenfalls rot gekleideter Mann betrat die Kneipe. Er steuerte, ohne sich auch nur umzusehen, auf den Tisch vor mir zu. Meine Neugier, die wie eine Flamme vor sich hin gelodert hatte, entbrannte nun endgültig. Schnell stand ich auf und schaffte es, den Umschlag beim Vorbeigehen zu schnappen, ohne dass es der Mann bemerkt hatte. Ich war in die entgegengesetzte Richtung der Tür gelaufen und eilte, so schnell ich unauffällig gehen konnte, auf den Ausgang zu. „Hey!“ Eine dunkle Stimme, die unmittelbar hinter mir war, ließ mich zusammenzucken. Ich ahnte, wem sie gehörte. Ein kalter Schauer lief mir den Rücken runter. „Sie haben da etwas in der Hand, was mir gehört.“ Nun wusste ich, wem diese Stimme gehörte. Ohne mich umzudrehen, rannte ich auf den Ausgang zu. Die Glocke klingelte. Erst einmal, dann ein zweites Mal. Den Brief versuchte ich in meine Tasche zu stopfen; im Rennen war es schwierig. „Bleiben Sie stehen!“ Ich wagte es nicht, nach hinten zu schauen. Meine Augen suchten den Weg, den ich mit dem Taxi hergekommen war, doch vergeblich, mein Orientierungssinn versagte. Ich lief und lief. Tempo halten! Schneller! Meine innere Stimme spornte mich an. Ich riskierte einen Blick nach hinten. Mein Verfolger hatte sich verdoppelt, die zwei rot gekleideten Männer sprinteten hinter mir her. Da! Ein Taxi! Meine Rettung! Mit dem Ziel vor Augen beschleunigte sich mein Tempo erheblich. Ich riss die Tür auf. Der Taxifahrer sah verdutzt in den Rückspiegel. Doch dafür hatte ich gerade keine Zeit. Ein Blick aus dem Fenster genügte und ich schrie die Adresse meines Hotels. „Schnell, schnell! Beeilen Sie sich!“ Das Auto setzte sich in Bewegung. Einer der roten Männer, wie ich sie nun nannte, klopfte wild an das Taxi. „Verdammt!“ Er griff an die Klinke und die Tür öffnete sich. „Los, los!“ Meine Stimme wurde hysterisch. Der Fahrer trat aufs Gaspedal und der Verfolger griff nach meinen Fuß. Ich versuchte, ihn abzuschütteln, hatte aber Schwierigkeiten, mich selber im Wagen zu halten. Das war das Ende. Verzweifelt klammerte ich mich an die Lehne vor mir. Auf einmal krachte es. Ich spürte, wie sich das Gewicht von meinem Bein löste. Sehen konnte ich nichts, da ich meine Augen vor Angst und Schmerz zukniff. Der Mann hatte sich ziemlich fest in mein Bein gekrallt. Als ich meine Augen öffnete, war die Tür des Taxis immer noch offen, der Verfolger aber weg. „Zumachen!“, sagte der Fahrer aufgebracht. Ich tat, wie mir gesagt wurde und schaute nach hinten. Das Letzte, was ich sah, bevor der Wagen um die Ecke bog, war der Mann auf dem Boden und ein aufgebracht aussehender Fahrradfahrer, der auf ihm lag. Ich lächelte. Meine Portion Nervenkitzel für die nächsten zwei Wochen hatte ich definitiv bekommen.

 Die Türen des Aufzugs öffneten sich und eine monotone Stimme drang in meine Ohren: „Die weltbekannte Firma Birfit wurde heute aufgelöst. Ein Umschlag mit gefälschten Dokumenten, die die Überstellung illegaler Arbeiter, die die gefälschten Markenklamotten für Birfit herstellen sollten, beweisen, kam an die Öffentlichkeit.“ Ich schmunzelte, als ich an dem großen Bildschirm, der im Eingangsbereich meines Geheimunternehmens hing, vorbei ging. Ich konnte stolz behaupten, dass ich diesen Fall zufriedenstellend gelöst hatte. Ein Zettel klebte in schnörkeliger Handschrift an meinem Computer: Gut gemacht, Kate! Ihr nächster Fall ist nicht weit! LG Susan Martinson. – Ich lächelte. Mission 16 war erfolgreich abgeschlossen.


Dieses Rätsel stammt aus der Mai-Ausgabe 2023 der Zeitschrift ArrivalNews (online), in der die Geschichte von Lilith auf der Kinder- und Jugendseite (Seite 9) veröffentlicht wurde. Wir danken der Illustratorin Jutta Fegert für die Bereitstellung.