Ein Sommer voller Geister

von Isabell (12 Jahre) 

Teil 1

Hannes hatte sich seine Sommerferien wirklich anders vorgestellt. Er hatte mit seiner Mutter in den Urlaub fahren wollen, ans Meer. Doch stattdessen waren sie vergangenen Samstag völlig überraschend umgezogen, von der Stadt hinauf in die Burg Trausnitz, in eine Mietwohnung. Hannes gefiel es auf der Burg, er fand es toll. Aber er war nicht glücklich, denn alle seine Freunde waren im Urlaub. Seine Mutter, die Schriftstellerin war, schrieb an ihrem neuen Buch und hatte somit keine Zeit, und Geschwister hatte er auch keine.

Eines Tages, als die Sonne besonders heiß vom Himmel brannte, stromerte Hannes auf dem Burggelände herum. Es war ungewöhnlich still. Der Junge beschloss, sich vor den Eingang zum Burghof auf die Mauer zu setzen. Hannes hockte sich generell gerne dorthin, wo man sich für gewöhnlich nicht hinsetzte. Kurz nachdem er Platz genommen und Löcher in die Luft gestarrt hatte, spürte er einen Luftzug. Und auf einmal wetzte mit einer unglaublichen Geschwindigkeit ein fast durchsichtiger Ritter auf einem ebenso durchsichtigen Pferd an ihm vorbei. Hannes bekam einen fürchterlichen Schrecken, verlor auf dem dünnen Mauersims das Gleichgewicht und stürzte in die Tiefe.

Doch im letzten Moment packte ihn jemand mit festem Griff am Handgelenk und zog den Jungen behände wieder nach oben. Hannes atmete noch viel zu schnell, aber als er realisiert hatte, dass er noch lebte, betrachtete er seinen Retter, beziehungsweise seine Retterin.

Zu seiner Verwunderung stand vor ihm ein Mädchen. Sie war ungefähr so alt wie er und ein bisschen kleiner. Das Mädchen trug einen roten Pulli und schwarze Leggings. Ihre Haare waren glatt und blond. Sie war ziemlich hübsch mit ihren fröhlichen, braunen Augen, wie Hannes (natürlich im Stillen) zugeben musste.

»Was war das? Und wer bist du?«, fragte Hannes verwirrt. »Hannah! Und das war Ritter Ferdinand Kunibert von Feierlingen, ein Geist. Davon gibt es hier sehr viele, weißt du«, sagte sie und grinste. Auch Hannes stellte sich vor und dachte: »Spinnt die? Es gibt keine Geister. Andererseits, vielleicht bin ich gerade einem begegnet!«

Hannes drehte sich um. »Von hier kann man die ganze Stadt sehen!«, staunte er. Hannah trat neben ihn. »Komm mit!«, meinte sie. »Ich zeige dir einen Ort, von dem man Landshut noch viel besser sehen kann!« Und schon war sie in Richtung Burghof losgelaufen.

Hannes beschloss, ihr zu vertrauen und folgte ihr. Hannah führte ihn in den Weißen Saal. Sie rannte zu einem wunderschönen, hölzernen Schreibtisch, kroch darunter und drückte gegen die Wand. Sie glitt einfach zur Seite! Hannes kam aus dem Staunen nicht mehr heraus.

»Komm!«, wiederholte Hannah und kroch in den Gang, der sich hinter der geheimen Tür verbarg. Hannes kroch hinterher. Der Gang war dunkel und feucht. Nach einer Weile kam es dem Jungen so vor, als würden sie schon eine Ewigkeit kriechen. Doch da kam Hannah vor einer hölzernen Leiter zum Stehen und kletterte hinauf und Hannes hinterher. Und plötzlich fanden sie sich auf dem Dach der Burg wieder. Hannes war fasziniert. Die Sicht war atemberaubend. Der Junge ließ sich neben Hannah auf dem Dachfirst nieder, und die beiden genossen die tolle Aussicht.

Da gesellte sich plötzlich ein Geist in mittelalterlicher Kleidung zu ihnen. Er kam wie aus dem Nichts angeschwebt. Hannah, die nun wusste, wie schreckhaft ihr neuer Freund sich gegenüber Geistern verhielt, hatte sich vorsichtshalber schon einmal bei Hannes eingehakt.

»Hallo Herbert!«, sagte sie. »Und hallo Hubert!«, fügte sie hinzu, ohne sich umzudrehen, als hinter ihr ein zweiter Geist auftauchte. Hannes’ Augen waren vor Schreck geweitet. Wenn Hannah ihn nicht festgehalten hätte, wäre er wahrscheinlich schon längst vom Dach gestürzt. Hannah wollte gerade etwas sagen, da fing einer der beiden an zu sprechen:

»Griaß eich! Mia sama Hubert und Herbert! Mia sama grod auf B’suach do, weil mia Geister kenan jo nur olle hundert Jahr in’d Menschenwaid kema! Schee is do, gei?« Und schon waren sie verschwunden. Hannah und Hannes unterhielten sich dann noch lange und Hannes erfuhr, dass einmal in der Woche Geisterjäger kamen, um sämtliche Geister zu verjagen, weil neulich ein altes Burgfräulein, das eine Gruppe Japaner erschreckt hatte, die Touristen zum Großteil vergrault hatte. Bisher hatte es aber niemand geschafft.

Auch in den nächsten Tagen trafen Hannes und Hannah sich oft, um alle Ecken der Burg zu erkunden. Sie hatten Geheimgänge erforscht und waren im Weinkeller gewesen, wo zurzeit ein mürrischer Graf lebte, der mit niemandem außer mit Hannah sprach.

Teil 2

Als Hannes eines Tages mit Hannah auf den Schultern in den Rittersaal trat, regnete es stark. Gerade als ein lauter Donnerschlag die Fensterscheiben erzittern ließ, fing die prächtige Ritterrüstung mit den Schnabelschuhen plötzlich an, sich zu bewegen. Obwohl Hannes sich an die Geister gewöhnt hatte und sogar anfing, sie zu mögen, bekam er einen gehörigen Schrecken, fiel nach hinten und landete lachend neben Hannah auf dem Boden.

Der nächste Tag war ein Freitag. Hannes war auf der Suche nach Hannah. Er passte extra auf, dass er nicht der stets mies gelaunten Gruppe Geisterjäger begegnete. Als er seine Freundin nirgends finden konnte, beschloss er, sich die Folterkammer anzusehen. Hannes hatte den unheimlichen Raum gerade betreten und das Licht angeschaltet, da fiel die Tür hinter ihm ins Schloss, und ein Schlüssel drehte sich. Durch das Fenster in der Tür sah er einen Geist mit grimmigem Gesicht. Er sagte: »Ich bin hier gestorben! Und so wird es nun dir geschehen!« Er lachte furchterregend und flog davon.

Hannes warf sich mehrmals wütend gegen die Tür, doch es war nichts zu machen. Abgeschlossen. Er setzte sich auf einen Heuballen. Da hörte er Geräusche von draußen. Es waren mehrere Männerstimmen und ein Schluchzen. Hannes sprang auf und sah durch das Fenster in der Türe. Er erschrak fürchterlich, denn vor der Tür stand Hannah, umzingelt von den Geisterjägern, die ihre Waffen auf sie gerichtet hatten! Tränen der Angst rannen über ihre Wangen. Hannes warf sich noch einmal mit voller Wucht gegen die Tür. Er musste Hannah helfen! Doch die Tür bewegte sich keinen Millimeter.

Nun lief der Junge ans Ende der Kammer, nahm Anlauf, warf sich gegen die Tür, und endlich sprang sie auf, und Hannes stürzte ins Freie. Er stellte sich vor Hannah und rief: »Verschwindet! Sie ist kein Geist!«
»Oh doch, das ist sie!«, widersprachen die Jäger und kamen näher.
»NEIN! Könnt ihr keine Geister mehr von Menschen unterscheiden?«, brüllte Hannes, so laut er konnte. Endlich ließen die Männer murrend von ihr ab. Hannah weinte noch immer. Er legte ihr den Arm um die Schulter und beruhigte sie. »Danke, Hannes! Aber sie haben ja so recht!«, meinte Hannah unter Tränen.
»Wie meinst du das?«, fragte Hannes leise, er ahnte Furchtbares. »Ich bin ein Geist. Und ich muss noch heute zurück in die Geisterwelt. Für hundert Jahre!« Hannah weinte nun noch viel mehr. Nun standen auch Hannes die Tränen in den Augen. Hannah war in den letzten Wochen zu seiner engsten Vertrauten, seiner besten Freundin geworden. Er wollte sie nicht verlieren. Und so nahm er sie ohne zu zögern in den Arm, und sie weinten beide noch ein bisschen. Sie wussten, dass der Abschied gekommen war. Hannes ließ Hannah los, und sie sagte: »Tschüss, Hannes, mein bester Freund. Ich werde dich niemals, nie vergessen!« Hannah lächelte traurig. »Ich bin erst vor Kurzem gestorben. Deswegen bin ich auch nicht durchsichtig. Ich saß auf der Mauer, und Ferdinand ritt vorbei. Ich erschrak, ich fiel. Wie du. Und mich hat niemand gerettet. Als der Arzt kam, hat mein Herz nicht mehr geschlagen. Ich habe dann die Gefahr an meinem Todesort gespürt und kam, um dich zu retten.« Viel mehr als »Oh je!«, brachte Hannes nicht heraus. Er umarmte Hannah noch ein letztes Mal und sah dann, wie sie allmählich blasser wurde und schließlich verschwand.

»Ich werde dich auch nie vergessen!«, flüsterte der Junge und fügte hinzu: »Das war der schönste Sommer meines Lebens. Ein Sommer voller Geister

… Ende.

Der hier veröffentlichte Text erschien zuerst 2017 als Printausgabe in Geistreiche Geschichten hinter  historischen  Mauern (s.u.). Aktuell ist er in abgewandelter Form (leichter Sprache) in der Zeitschrift ArrivalNews (online) auf der Kinder- und Jugendseite (Seite 9) der Februar-Ausgabe (Teil 1) sowie der Juni-Ausgabe (Teil 2) 2024 zu lesen. Außerdem findet sich eine Audioversion auf https://soundcloud.com/arrivalnews

Viel Spaß!

Die Illustrationen auf dieser Seite stammen von Florian Pick (Gespenst) und Jutta Fegert (Burg und Geister).

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Geistreiche  Geschichten  hinter  historischen  Mauern. Gespenster-  und  Spukgeschichten.  Kinder  schreiben  für  Kinder  © Rosenheimer Verlagshaus GmbH & Co. KG, Rosenheim Herausgegeben  von:  Bayerischer  Hospiz-  und Palliativverband  u. Kinder lesen und schreiben für Kinder e.V. 
ISBN 978-3-475-54602-0

Auf der altehrwürdigen Burg Trausnitz und Umgebung fanden im Sommer 2016 mehrere Schreibwerkstätten zum Thema  „Geschichten hinter historischen Mauern“ in Kooperation mit dem Bayerischen Hospiz- und Palliativverband (BHPV) und der Bayerischen Verwaltung der Staatlichen Schlösser, Gärten und Seen statt. Die Schülerinnen und Schüler der sechsten Klassen des Gymnasiums Seligenthal in Landshut, des Städtischen St.-Anna-Gymnasiums in München und des Gymnasiums Tegernsee (Stipendiaten der Roland Berger Stiftung) schrieben viele spannende Gespenster- und Spukgeschichten. Diese sind in diesem 160 Seiten starken Sammelband „Geschichten hinter historischen Mauern – Gespenster- und Spukgeschichten“  im Rosenheimer Verlag erschienen.