Violetta M., 15 Jahre

Provokant

Es ist nicht unscheinbar, aber leicht zu übersehen. Auf den ersten Blick ist es nur eines von vielen, fast schon unbedeutend. Die Wenigsten bleiben stehen, um es näher zu betrachten. Doch wenn sie es täten, würde ihnen die Stuckzier über der Eingangstüre auffallen, die den zunächst lieblich wirkenden Charakter des Hauses mit der weißen Fassade unterstreicht. Vielleicht würden die Betrachter, die zwischen Erkern eingespannten Balkone bemerken, die den viergeschossigen Jugendstilbau schmücken. Möglicherweise würde einigen von ihnen das Mansardendach, dessen Erbauung um 1911 großen Anklang fand, ins Auge stechen. Es würden jedoch zweifelsohne fast alle die bloße Existenz dieses Hauses für belanglos oder gar „nicht erwähnenswert? halten. Doch so erstaunlich es manchen auch scheinen mag, die Begebenheiten, die sich hinter diesen Mauern abspielten, widerlegen den Eindruck der Unbedeutsamkeit und lassen alles aus einer ganz anderen Perspektive erscheinen …

Es war spät in der Nacht. Er stand von seinem hölzernen Arbeitstisch auf und streckte sich gähnend. Dabei erhaschte er einen Blick auf die schlichte Wanduhr, die Viertel vor zwölf anzeigte.
Wie lange war es her, dass er zum letzten Mal geschlafen hatte? Vier Tage? Oder gar fünf?
Doch es war zu wichtig, er war kurz vor der Schlussfassung. Schleppend ging er in Richtung Küche und schenkte sich Whiskey nach. Die Müdigkeit schien ihn übermannen zu wollen, doch sein Wille war stärker. Nachdem er, fast gierig, das Glas geleert hatte und die kühle Flüssigkeit seine Sinne abermals benebelt hatte, setzte er wieder zur Arbeit an. Er begab sich mitsamt der Whiskeyflasche zurück an den Tisch, auf dem das beinahe fertige Manuskript lag. Wieder und wieder überflog er es. Gelegentlich stockte er, las es sich selbst laut vor, verbesserte einige Passagen. Es war provokant, vielleicht sogar sein bisher am meisten provozierendes Werk, doch darauf legte er es an. Das war seine Absicht.
Abermals schenkte er sich Whiskey nach. Ein leichter Schwindel erfasste ihn, er lehnte sich kurz in dem unbequemen, schmucklosen Stuhl zurück und schloss die Augen. In seinem Kopf spielten sich die Szenen wie automatisch ab und er fragte sich, wie die Allgemeinheit den Film aufnehmen würde. Und wieder überlegte er, ob er alles auch wirklich provokant genug dargestellt hatte. Es sollte Aufsehen erregen, die Menschen sollten spekulieren, ihre politischen Ansichten dazu diskutieren und es sollte kontrovers betrachtet werden.
„Ja…“, dachte er „…sie sollen darüber in unterschiedlichster Art und Weise nachdenken. Denn es ist nicht in erster Linie wichtig, in welcher Weise sie darüber nachdenken. Dass sie darüber nachdenken, ist schon Zeichen genug für die gelungene Beschaffenheit  des Stückes. Dass es Beachtung findet, ob in Ratlosigkeit, in Abschätzung oder in Lob. Darauf kommt es mir an. Es soll Aufsehen erregen!“  

Nach einem erneuten Blick auf die Uhr, mittlerweile war es halb fünf, schrieb er die letzte Textstelle um und betrachtete sein vollendetes Werk. Zum ersten Mal, seit dem Beginn an seiner Arbeit, lächelte er. Er hatte es geschafft, endlich fertig. Zufrieden, aber auch durch Schlafentzug, Alkohol und Drogen langsam am Rande des Wahnsinns angelangt, stand er auf, legte das fertige Drehbuch in seine Schreibtischschublade und beschloss, schlafen zu gehen. Doch trotz der Übermüdung war er aufgeregt, berauscht vom Adrenalin, Begleiter des   Erfolges bei der Fertigstellung. Selbst nachdem er einige Male im Raum hin und her gelaufen war, legte sich sein ruheloses Gemüt in keinster Weise. Aufgewühlt sah er durch das Fenster mit dem braunen Rahmen, durch welches ihm ein Blick auf den kleinen Innenhof gewährt wurde. Einige Minuten betrachtete er den blühenden Flieder, dessen violette Farbe durch die aufgehende Sonne langsam zu erahnen war. Im Gegensatz zu dem Gebäude, in dem er wohnte, war die Fassade des Hauses auf der anderen Seite des Hofes schlicht und schmucklos. Dies und viele andere Gedanken schossen ihm, bei der Bemühung sich zu beruhigen, durch den Kopf, als er beschloss, dass es wirklich von Nöten sei, wieder einmal zu schlafen. 

Auf dem Weg in die Küche verspürte er urplötzlich ein Gefühl von Enge im Brustraum. Das Atmen fiel ihm schwer und Panik machte sich in ihm breit. Als er sich keuchend auf der Küchenzeile abstützte, verschwand es zu seiner großen Erleichterung wieder, was jedoch nicht lange währen sollte. Denn gerade als er sich wieder aufrichten wollte, durchzuckte ihn ein Schmerz, der sich von seiner Brust bis hin zu seinem Kiefer ausbreitete. Mit letzter Kraft begab er sich zu einem kargen Wandschrank, öffnete diesen und beförderte, mit geweiteten Pupillen, eine kleine Schachtel, deren Inhalt Schlaftabletten waren, ans anbrechende Tageslicht. Mit zitternder Hand öffnete er sie hektisch und nahm ein paar von diesen  mit einem kräftigen Schluck Whiskey ein. Er drehte sich um, doch diese einfache Bewegung war schon zu viel gewesen. Er bemerkte nicht mehr wie ihm das Whiskeyglas aus der Hand glitt, in tausend Einzelteile zersprang und er selbst langsam zu Boden sank.
Am 10. Juni 1982 starb Rainer Werner Fassbinder in seiner Wohnung in der Clemensstraße 76 in München-Schwabing an einem Herzstillstand, der vermutlich durch die gleichzeitige Einnahme von Alkohol, Schlaftabletten und Kokain ausgelöst worden war, nach Abschluss der Arbeiten an seinem Projekt „Querelle?. Er war der Einzige, der sich in seinen Stücken an brisante Themen und Tabus heranwagte, wie noch keiner zuvor. Der damals erst 37-jährige Regisseur, Filmproduzent, Schauspieler und Drehbuchautor wurde zu seiner Zeit als einfallsreichster junger Filmemacher ganz Westeuropas gefeiert. Insgesamt drehte er über 40 Fernseh- und Kinofilme, spielte in zahlreichen Theaterstücken mit, schrieb Drehbücher und verfasste mehrere Hörbücher.

Auf den ersten Blick ist das Haus nur eines von vielen. Fast schon unbedeutend. Und doch lebte ein derart genialer und erfolgreicher Mann, dessen Namen wohl jeder kennt, in seinen Mauern. Wer würde ahnen, dass sich eine in derartigem Maße dramatische und packende Begebenheit hinter den kunstvoll ausgearbeiteten Fenstersimsen abgespielt hatte. Wer würde auch nur daran denken, dass ein solchermaßen bekanntes wie widersprüchliches Genie dort gelebt hatte. Wer von denen, die das geräumige Treppenhaus mit den knarzenden Stufen hinaufgehen, würde erwägen, dass sie dasselbe sehen, was auch Fassbinder zu seiner Zeit sah. Dass sie auf demselben Eichenparkett entlanglaufen und sich an demselben dunkel gebeizten Treppengeländer festhalten. Es ist dieselbe gelbliche Wandfarbe wie damals, und auch die Stuckdecke ist noch erhalten. Selbst die filigrane Jugendstillampe befindet sich noch an ihrem ursprünglichen Platz. Noch immer sind die zarten gold- und rosa Töne erhalten, wenn auch die Lampe langsam verrostet und verfällt. Obgleich sie die Form einer zeitlosen Vase hat, deren kunstvoll ausgearbeitete Blumen langsam verblassen, ist sie ein Überbleibsel aus einer vergangenen Epoche. So gewöhnlich das Haus, mit den vier bunten Mosaiken an dem Balkon im zweiten Stock, auf den ersten Blick auch scheinen mag, wer sich die Zeit nimmt, um stehen zu bleiben, wird es nicht bereuen. Denn wie Fassbinder schon sagte: „Schlafen kann ich, wenn ich tot bin.“