Geschichte des Monats: Eine Geschichte wie im Film
von Nadezhda D., 16 Jahre (Alter zur Zeit der Texterstellung)
Ich rannte und rannte. So schnell ich konnte. Hatte ich sie abgehängt oder waren sie immer noch hinter mir her? Ich bog in eine abgelegene Seitenstraße ab. Es handelte sich um eine Sackgasse. Kein Ausweg. Was mache ich jetzt bloß? Jetzt haben sie mich. Aus dem Gebäude nebenan hörte ich Stimmen, die immer lauter wurden. Ich zuckte zusammen und suchte schnell nach einem Versteck. Da – ein alter, zerfledderter Karton. Ich machte mich so klein, wie es nur ging. Ich zitterte vor Angst. Jemand riss eine Tür auf. Vermutlich die Hintertür des Restaurants, das mir durch sein grellleuchtendes Namensschild aufgefallen war. “Susi & Strolch” hieß das Restaurant. Wie kitschig, habe ich mir beim Vorbeilaufen gedacht.
Schritte waren zu hören und sie kamen in meine Richtung. Mein Atem verlangsamte sich. Es ist so weit, gleich komme ich wieder in den schrecklichen Käfig.
Jemand kniete sich vor den Karton und schaute neugierig hinein. Ich traute mich nicht, die Augen aufzumachen. Ob sie meine Angst genauso merkten, wie ich die Angst bei Menschen riechen kann? Die Person streckte die Hand nach mir aus und wollte mich berühren, das spürte ich. Doch aus welchem Grund auch immer schaffte sie es nicht. Ich hörte wieder Schritte. Dieses Mal ging die Person schneller, sie rannte fast. „Mommy, Mommy! Da ist der Hund, den ich gesehen habe. Können wir ihn behalten?”
Ich atmete ein klein wenig auf. Aber, aber…. wie konnte das sein? Wo sind die Männer mit den Fangstäben und Netzen geblieben? Ich konnte es mir nicht erklären. Ich sammelte all meinen Mut zusammen und kroch ganz langsam und vorsichtig aus meinem Versteck. Der Gedanke, dass es sich um eine Falle handeln könnte, kam mir viel zu spät. Da hatte ich schon meinen Kopf rausgestreckt. Schnell machte ich wieder einen Schritt nach hinten. Panik stieg in mir auf.
Im nächsten Moment fand ich mich in den Armen eines kleinen Mädchens wieder. Ich spürte die Wärme, die sie ausstrahlte, und fühlte mich sicher in ihrer Umarmung. Wie konnte so ein kleines Wesen mir so ein Gefühl von Sicherheit geben?
Das war der Beginn unserer Geschichte.
Die Familie, der das Restaurant gehörte, nahm mich auf und gab mir den Namen Buddy. Ein ziemlich gewöhnlicher Name, doch ich verstand, wieso sie mir diesen Namen gegeben hatten. Ich war froh, dass sie mich als einen treuen Begleiter wahrnahmen. Außerdem hatten ich einen eigenen, großen Hundekorb bekommen, der direkt neben der doppelten Glastür zum Garten lag. Ally, die kleine Tochter, und ich waren seit dem Moment, als sie mich in der düsteren und schmutzigen Seitenstraße in die Arme genommen hatte, unzertrennlich. Ich begleitete sie in der Früh zum Kindergarten und wartete mittags auf sie, wenn sie zurückkam. Nachmittags spielten wir, bis es dunkel wurde in dem riesigen Garten und abends durfte ich sogar bei ihr schlafen. Wir waren beste Freunde geworden.
Sie war ein kleiner Sonnenschein. Mit ihren blonden Locken und den großen blauen Augen konnte man ihr nichts abschlagen. Sie redete und redete den ganzen Tag. Wahrscheinlich ahnte sie nicht, dass ich alles verstand, was sie mir erzählte. Ich war ein aufmerksamer Zuhörer und hatte mir zur Aufgabe gemacht, sie zu beschützen.
Einmal hat ein Junge aus dem Kindergarten sie geärgert, ihr an den Haaren gezogen und sie geschubst. Damals sprang ich über den Zaun, stellte mich vor sie und bellte den Jungen so lange an, bis er weglief. Ich rannte ihm noch ein kleines Stück hinterher, um sicher zu gehen, dass er auch wirklich nicht mehr zurückkommt und dass er Ally nie wieder ärgerte.
Die Familie, allen voran Ally, hatten mein Leben völlig verändert. In einer schönen und positiven Weise.
Als kleiner Welpe habe ich eine Zeit lang in engen, stinkenden Boxen verbracht. Zweimal hatten die Welpenhändler es geschafft, mich zu schnappen und in einen viel zu kleinen und schmutzigen Käfig einzusperren. Nur mit viel Mühe bin ich ihnen entkommen. Die meiste Zeit habe ich dann auf der Straße verbracht. Ich war allein, weil ich niemanden hatte.
Umso glücklicher war ich, als die Evans mich gefunden und mit nach Hause genommen haben.
Eines Tages, als ich im Restaurant der Familie auf der Fensterbank saß und uninteressiert in Richtung des Parks auf der anderen Straßenseite guckte, blieb mein Blick an ihr hängen. Ich sah sie, wie sie sich ängstlich hinter einem Baum versteckte. Im nächsten Moment verstand ich auch warum oder besser gesagt, vor wem sie sich verstecken wollte. Zwei große Männer, bei deren Anblick ich mit Erschrecken feststellen musste, dass ich sie nur zu gut kannte, kamen ihr bedrohlich nah. Mein Beschützerinstinkt schlug Alarm, ich sprang auf und stieß mit meinen Vorderpfoten die Eingangstür auf. Im Hintergrund hörte ich Stimmen, doch ich blendete sie aus und rannte schnell über die stark befahrene Straße trotz der Gefahr, von einem unfähigen Fahrer angefahren zu werden.
Was mache ich denn überhaupt? Rasch bremste ich und bleib wie angewurzelt stehen. Vor meinem geistigen Auge sah ich mich als kleinen Welpen, der sich in einem winzigen Käfig zusammenrollt.
Ein lautes und verzweifeltes Hundebellen brachte mich wieder in die Realität zurück. Ich schüttelte mich. Jemand brauchte ja meine Hilfe. Ich schnappte mir einen großen Ast und rannte, so schnell ich nur konnte, weiter in Richtung der beiden Männer. Ich kam gerade rechtzeitig, denn noch ein weiterer Schritt und sie hätten sie erwischt. Ich sprang zwischen den beiden hindurch und mit dem Ast, den ich in meinem Maul festhielt, riss ich beide zu Boden. Bis sie wieder auf die Füße kommen konnten, waren die Evans auch schon über die Straße gekommen und hatten die Polizei verständigt, da sie, genau wie ich, die Männer erkannt hatten.
„Das, mein Junge, war der Moment, als ich deine Mutter kennenlernte.”
Die Evans hatten nichts dagegen, noch einen Hund in der Familie aufzunehmen. Unsere Geschichte und unser Leben fühlten sich ein wenig so an, wie die von Susi und Strolch im gleichnamigen Film. Auch wenn ich das ziemlich ungern zugab.
Ein Unterschied zum Film bestand jedoch: Im Gegensatz zu den beiden Hauptcharakteren waren wir beide Hunde, die auf der Straße aufgewachsen sind, aber schließlich ein tolles zu Hause gefunden haben.
Der hier veröffentlichte Originaltext von Nadezhda “Eine Geschichte wie im Film” erscheint in gekürzter Form und einfacherer Sprache auch in der Printausgabe vom Juni 2021 auf der Kinder- und Jugendseite (Seite 9) von ArrivalNews sowie unter https://www.arrivalnews.de
Ihr könnt Euch den Text auch vorlesen lassen: https://soundcloud.com/arrivalnews
Viel Spaß!