Carolin T., 17 Jahre
Das Haus im Garten
In Anlehnung an eine wahre Begebenheit
Das Anwesen war so groß, dass Alfred sich schon darin verlaufen hatte. Zusammen mit seinen drei Geschwistern hatte er darin gespielt, als sie neu hergezogen waren. Zwischen den Buchen und Eichen, die in der sommerlichen Hitze Schatten spendeten, ließ es sich gut Verstecken und Räuber und Gendarm spielen. Alfred war der älteste der vier Geschwister, aber bisweilen spielte er noch ausgelassen mit seinem Bruder und seinen Schwestern. Der große Garten lud freundlich dazu ein, bespielt und entdeckt zu werden.
„Vor ein paar Jahren hat im Haus von Onkel Thomas Richard Wagner gelebt“, hatte Alfreds Vater, Georg Hirth, ihm erzählt, als sie in das Haus im Garten gezogen waren. „Unser Haus hat er auch bauen lassen. Er hat im Sommer hier gewohnt. Ich kann mir gut vorstellen, wie Herr Wagner in lauen Sommernächten hier vor unserem Haus in seinem Garten saß und sich hat inspirieren lassen. Hast du schon einmal Wagnermusik gehört, mein Junge?“ – „Nein“, antwortete Alfred. Lächelnd legte Georg daraufhin eine schwarz glänzende Platte auf den Plattenspieler, eine simple Handlung, die aber etwas Feierliches an sich hatte, einzig durch die Art, wie Georg die Platte anfasste. Andächtig lauschte Alfred zum ersten Mal Wagners Musik und während er das tat, blickte er träumerisch aus dem Fenster hinaus, hinaus in den Garten, hinaus in die Ferne.
Alfred Hirth war ein kluger Bursche, der sich oft selbst seine eigenen Gedanken machte, aber er schenkte auch den Worten seines Vaters große Beachtung. Georg Hirth und Thomas Knorr, Alfreds Onkel, waren erfolgreiche und gut betuchte Männer, die zusammen die äußerst wertgeschätzte Buchdruckerei „Knorr und Hirth“ führten. Sie waren in Bayern und ganz Deutschland als die Verteidiger der Pressefreiheit und der Freiheit des Einzelnen bekannt, ersehnten sich eine Demokratie, forderten Mitspracherecht, förderten die Kunst und interessierten sich für die Jugend. 1895 hatte Georg Hirth die Zeitschrift „Jugend“ ins Leben gerufen, nachdem er 1881 die Zeitung „Münchner Neueste Nachrichten“ seines verstorbenen Schwiegervaters übernommen hatte. Man konnte nicht abstreiten, dass Georg Hirth Einfluss hatte; und so war es für Alfred eine notwendige Schlussfolgerung, die Handlungen seines Vaters genau nachzuvollziehen, um den dahinter liegenden Erfolgstrick zu erkennen. Was Georg auch tat, es schien richtig zu sein – und was hätte es für einen Grund gegeben, Richtiges nicht nachzuahmen?
Durch seinen Vater hörte Alfred auch einiges aus der Politik. Es war der Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts, Deutschland ein Kaiserreich und der schlanke, schnurrbärtige Wilhelm II. an der Macht. Hätte Alfred über ihn urteilen müssen, er hätte gesagt, Wilhelm sei ein ordentlicher, vernünftiger Mann. Georg hatte Bismarcks Politik zuletzt kritisiert und war daher fast erleichtert, als Wilhelm II. diesen in die Schranken verwies. Diese Stimmung bemerkte auch Alfred und teilte sie. Doch dann hörte er seinen Vater über Wilhelm schimpfen. „Wenn Bismarck eines richtig gemacht hat, dann war es die Außenpolitik!“, echauffierte er sich, als er mit Thomas Knorr im Garten beisammen saß. „Aber Kaiser Wilhelm schert sich um nichts! Sieh dir das an, Thomas!“, sagte er und schlug dabei mit der flachen Hand auf eine Zeitung, die ausgebreitet auf dem Tisch lag. „Er handelt nur aus einem Grund: um seine Stärke und Durchsetzungskraft zu demonstrieren. Mit Verlaub, dieser Stümper hat nicht die blasseste Ahnung, welche Bündnisse er da gerade zerstört! Wenn das so weiter geht, sehe ich auch eine Bedrohung unserer Freiheit auf uns zukommen. Entweder wird es die Einschränkung der Pressefreiheit sein oder Krieg.“
Mit Schrecken hatte Alfred das vernommen. Bestürzt las er von diesem Tag an regelmäßig die Zeitung, um immer gut informiert zu sein. Und je länger er las, desto mehr verabscheute er das Foto des Kaisers, das er jeden Morgen im Foyer der Schule hängen sah und das stolz auf ihn „herabblickte“.
Sein Vater, der weise Mann, sollte Recht behalten haben. Es kam zum Krieg. Jeder schien mitzumischen und keiner zu wissen, warum genau er das tat. Alfred wusste, dass komplizierte Bündnisse existierten, in denen Deutschland keine Rolle spielte, und er wusste, dass der Krieg ausgebrochen war, weil ein Kronprinz in Sarajewo ermordet worden war. Ein Mensch wird umgebracht, dachte Alfred verbittert, und ganz Europa zieht deswegen in den Krieg. Und nicht nur das, jedermann scheint es auf Deutschland abgesehen zu haben. Er konnte sich denken, dass dies mit den Bündnissen zusammenhing, doch diese waren so schwierig zu durchschauen, dass er nicht verstand, warum alle gegen Deutschland waren. Alfred war beunruhigt wegen des Krieges, doch München blieb vor dem ersten Weltkrieg verschont, sodass die Hirths zwar nicht direkt bedroht waren, sich aber ständig vor einer Ausweitung der Front fürchteten. Schreckliche Nachrichten kamen Alfred wöchentlich zu Ohren und er betete, dass seiner Familie so etwas nicht zustieße. Und tatsächlich ging der Krieg an den Hirths vorüber. Nur das Haus schien eine Narbe von den Strapazen des Krieges davon getragen zu haben: Einen kaum merklichen Riss, der sich vom Dach bis zu einem der Fenster zog. „Wenn dieser Riss das einzige ist, was wir durch den Krieg zu beklagen haben, will ich mich nicht darüber beschweren“, meinte Georg. „Er stört ja nicht weiter. Außerdem habe ich gerade Wichtigeres zu tun. Onkel Thomas und ich platzen aus allen Nähten vor Arbeit. Da hat die Fassade wirklich noch Zeit.“ Und in der Tat war Georg Hirth sehr beschäftigt. Engagiert kümmerte er sich um zahlreiche Artikel für seine Zeitungen, in denen er so gut und vollständig wie möglich die Entstehung der ersten deutschen Demokratie verfolgen ließ. Ein Traum wurde für ihn wahr. Jeder Mensch hatte in der Weimarer Republik die Chance zu wählen und damit die Geschichte des Landes zu lenken. Jedoch mit diesem erfüllten Traum starb Georg Hirth 1916. Für Alfred und seine Geschwister brach eine Welt zusammen. Seine Mutter Elise versuchte, die Zähne zusammenzubeißen und nun alles selbst zu regeln. Was mit dem Verlag zu tun wäre, besprach sie mit Thomas Knorr und dieser kümmerte sich um die Belange.
Es folgten – wie eine Bestätigung des demokratischen Systems – die goldenen Zwanzigerjahre. Den Hirths ging es besser denn je; die mit der Wirtschaftskrise verbundenen Verluste, die 1919 durch die Rückzahlungen der Kriegsgelder zustande gekommen waren, waren bald ausgeglichen und vergessen – die Kinder gingen für einige Monate zu Bildungszwecken ins Ausland, Elise Hirth kaufte sich edle Kleider, stellte eine Haushaltshilfe ein und ließ die Fassade reparieren.
1929 sprang der Riss in der Mauer des Hauses im Garten wieder auf, als alles aus dem Winterschlaf erwachte. Es war, als räkele sich das Haus – oder als bebe es erfüllt von einer schlechten Vorahnung. Aus Amerika floss kein neues Geld mehr nach Europa, was völliges Chaos verursachte. Thomas, der die Hirths finanziell eine Zeitlang unterstützte, konnte irgendwann auch nicht mehr weiter helfen. Der Reichtum der Hirths schmolz wie ein Eisberg in der Tropensonne dahin. Die Schulden, die die Hirths in die Enge trieben, zwangen Elise dazu, etwas zu unternehmen, wenn sie nicht in existenzielle Not geraten wollten. Schließlich entschied die geplagte Frau, Teile des Gartens zu verkaufen. Vater sagte stets, die Meinungsfreiheit sei unser höchstes Gut. Unsere Meinungsfreiheit haben die Schulden uns nicht genommen, aber dafür unseren Besitz, dachte Alfred, als er zusehen musste, wie ihr ehemaliges Grundstück bebaut wurde. In diesem Moment war er sich nicht mehr sicher, ob es ihm lieber gewesen wäre, aufzugeben. Wenn die anderen Bürger sich wie er mit ihren Meinungsäußerungen mehr zurückhalten hätten können, wäre es bestimmt auch nicht zu den Straßen- und Saalschlachten gekommen, die es immer öfter gab. Die Menschen fürchteten sich vor der Armut, sie sahen es nicht ein, warum sie Geld ins Ausland zahlen sollten auf Grund eines Vertrags, den sie nicht selbst unterschrieben hatten. Aber der Versailler Vertrag zwang sie dazu. Überhaupt, immer, wenn etwas übel war, war der Versailler Vertrag daran schuld und natürlich diejenigen, die ihn unterschrieben hatten: die ersten Politiker der Weimarer Republik.
Sowohl Kommunisten als auch Nationalsozialisten hetzten darum gegen alle Demokratiebefürworter. Je verzweifelter die Leute wurden, desto radikaler wurden sie auch, und so kam es, dass 1933 die stärkste Partei im Reichstag die Nationalsozialistische deutsche Arbeiterpartei war. Der Reichspräsident ernannte daher Adolf Hitler als Vertreter dieser stärksten Fraktion zum Reichskanzler. Den Hirths missfiel das. Doch ausrichten konnten sie dagegen nichts.
Und dann ging alles ganz schnell. Politiker der SPD verschwanden auf einmal und mit ihnen auch Thomas Knorr. Alfred und seine Geschwister, die den Onkel recht gern gemocht hatten, waren schockiert darüber und hatten große Angst, ihrem Verwandten könne etwas zugestoßen sein. Tatsächlich fand man ihn plötzlich tot auf. Bittere Verzweiflung verbreitete sich unter den Hirths. Alfred empfand nichts als Ungerechtigkeit. Er begriff nicht, was sein Onkel Falsches getan haben konnte. „Wir wissen doch alle, wer das war!“, stieß er zischend aus. „Die Nationalsozialisten! Die werden nicht damit zurechtgekommen sein, dass Onkel Thomas gegen ihre Einstellung war!“ – „Sag?s nicht zu laut!“, wisperte Elise besorgt. „Nicht, dass sie dich auch noch holen! Halte dich mit diesen Äußerungen zurück oder uns ergeht es ebenso!“ Wie bittere Galle stieg Alfred das den Hals empor. Er fühlte sich wie sein Vater einst dazu verpflichtet, ein Kämpfer der Gerechtigkeit zu sein. Doch er verstand den guten Rat seiner Mutter und nahm ihn sich zu Herzen. Die Hirths blieben wachsam, das Feuer des Widerstands brannte in ihnen, doch sie schwiegen.
Das Jahr ging vorüber und weitere zogen vorbei. Die Nationalsozialisten verboten den Verlag „Knorr und Hirth“, der mittlerweile von einem Fremden übernommen worden war. Der Riss an der Hauswand weitete sich aus. Alles schien zu zerfallen. Gerüchte über Vernichtungslager kursierten, doch niemand wusste Genaueres und wollte es wahrscheinlich lieber auch nicht wissen; dann kam der zweite Weltkrieg.
Die Hirths verkauften den Rest des großen Gartens als einzelne Grundstücke. Alfred, der inzwischen in der Stahlindustrie arbeitete, gab etwas von seinem Geld, das er eigentlich für ein eigenes Anwesen hatte sparen wollen, zu dem Vermögen seiner Mutter, die auch noch für seine jüngeren Geschwister Sorge tragen musste. Die Hirths besaßen fast nichts mehr. Sie fürchteten sich vor jedem Anzeichen, dass die Nationalsozialisten auf sie aufmerksam geworden seien, vor jedem Bombenalarm, vor jedem Schrei, der von der Straße aus an ihr Ohr drang.
Alfred konnte förmlich spüren, wie die Wände erzitterten und rechnete so manches Mal damit, dass ihm in jeder Sekunde das Dach über dem Kopf zusammenstürzen könnte. Das Haus war eines der wenigen Dinge, die die Hirths noch besaßen. Dennoch war es auch das einzige Gut, das den Hirths wegen ihrer Schulden und ihrer Existenzangst noch helfen konnte. Schweren Herzens entschloss sich Alfred gemeinsam mit seiner alten Mutter, das Haus im Garten aufzugeben und zu verkaufen. Wenigstens konnte sich daraus noch Geld schlagen lassen.
Ein letztes Mal drehte sich Alfred zu seinem ehemaligen Elternhaus um. Er schluckte. Vor einigen Jahren hatte er sorglos mit seinen Geschwistern darin gespielt, dort und im Garten, der mittlerweile völlig bebaut worden war. Nun war nichts mehr von dem Anwesen aus seiner Erinnerung übrig geblieben. Ein tiefer Sprung, in dem Moos wucherte, zerklüftete das kleine, einst edle Haus. Er war wie ein zerrissenes, weinendes Herz, ja, der Zerfall selbst. Wenn ich gewusst hätte, was du mir die ganze Zeit voraussagen wolltest, dachte Alfred betrübt. Dann wandte er sich ab und verließ das Haus für immer.
Von Wagners beiden Häusern steht heute nichts mehr. Nur eine Gedenktafel nahe der Richard Wagner Straße/Brienner Straße 21/37, erinnert daran, dass es die Gebäude überhaupt gegeben hat.
„Eine erste Gedenktafel, die im Giebelbereich des durch den Architekten
Emanuel Seidl im Jahre 1893 – 1894 umgebauten Hauses mit Halbrelief
eingefasst war, wurde, zusammen mit dem wunderschönen Gebäude, im Jahre 1944 zerstört. Unsere Tafel zeigt eine neu gefertigte einfache Tafel, die an der Fassade des Schulgebäudes angebracht ist“. Quelle: http://www.muenchenwiki.de/wiki/Gedenktafel