Johanna hat mit 12 Jahren schon einige Geschichten geschrieben. Im Februar 2016 erhielt sie den 1. Preis in der Kategorie Jahrgangsstufe 5 beim „Fantastischen Schreibwettbewerb“ der Internationalen Jugendbibliothek (IJB) in München für ihre berührende Geschichte mit dem Titel „Slonazka“.

Ihre neue Geschichte, entstanden in unserer Februar-Schreibwerkstatt 2018 im Münchner Künstlerhaus, heißt „Platon und ich“ und wurde im Juni 2018 im halbjährlich erscheinenden Mietermagazin der GBW veröffentlicht. Bei uns könnt ihr sie schon vorab lesen. Viel Spaß! 

Johanna

Johannas Text erscheint dieses Jahr im Rahmen des Kinder-Kultur-Sommers 2021 unter kiks-festival.online und wurde hierfür extra neu vertont (siehe unten).

Platon und ich

Eigentlich ist das hier eine Höhle. Dunkel. Geheimnisvoll. Dinge sind hier passiert. Das weiß ich. Leute haben erzählt und aufgeschrieben, aber ich glaube ihnen nicht. Wenn hier nichts passiert wäre, dann wäre mir nicht so kalt. Eine Höhle ist eine Höhle, weil etwas passiert ist. Da war Wasser. Und Fesseln. Wie bei Platon. Nur dass bei Platon alle Menschen in der Höhle sind. Hier bin nur ich. Und die Bilder. Eins neben dem anderen. Ihre Blicke lasten auf meinen Schultern, drücken mich nach unten. Nein, allein bin ich nicht. Sie sind da. Und das ist vielleicht nicht alles. Die gesamte Menschheit? Doch das konnte auch Platon nicht genau sagen. Wer weiß denn, ob es noch einen Menschen in der echten Welt gibt?

Einen, der zu weise war, um zurückzukehren.

Eine Hand auf meiner Schulter. Ich drehe mich um. Vor meinem inneren Auge sehe ich die Massen. In Fesseln. Und ich bin das Schattenbild, das sie betrachten. Oder längst eine von ihnen. Die Angst ist es, die meinen Kopf schließlich dreht. Und der Mut. Und da bist du. Deine Hand auf meiner Schulter. Du. Sonst sehe ich niemanden. Nur dich. Und die Bilder. Da sind sie trotzdem. Alle. In der Höhle.

In deinen Augen sehe ich Bewunderung für diesen Raum, keine Furcht. Doch ich spüre die Fesseln, wie sie an mir hochwachsen, sie sprießen aus dem Ebenholz des Stuhles, aus den Marmorsäulen, den verzierten Stuckdecken. Sie versuchen, nach mir zu greifen. Und auf einmal verstehe ich, was Platon zu mir sagt. Dass die Menschen vergessen zu leben. Und das stimmt.

Meine Lippen sind ganz nah an deinem Ohr. Ich flüstere so leise, dass niemand es hören kann, außer uns. Es ist nicht romantisch. Das ist nicht der Sinn der Sache. Ich weiß nicht, was der Sinn ist, aber nicht, dass ich mich verliebe.

„Wir müssen raus hier.“ Ich sehe, dass du nachdenkst. Du versuchst, den Sinn dieses Satzes zu verstehen. Das hier ist nur der Keller des Künstlerhauses. Allotria. Schönes Wort. Nur wegen dieses Wortes bin ich hier. Ich bin vorbeigekommen auf der Suche nach Inspiration. Dieses Wort kann alles sein. Und ich hatte gehofft, dass ich hier auch alles sein kann. Ich bin gekommen, um Freiheit zu suchen. Gefunden habe ich Ketten. Und dich. Vielleicht ist das sogar besser. 

„Kannst du rennen?“, fragst du. So langsam glaube ich, du hast mich mehr verstanden als ich selbst. „Ja“, sage ich. „Jeder kann rennen.“ Anstatt mir zu antworten, nimmst du meine Hand.

Und wir rennen.

Im Sprint war ich nie gut, das, das ist mehr. Jeder kann rennen, wenn er es versteht. Jeder kann fliegen, wenn er daran glaubt. Und jeder kann leben, wenn er es nur will. Mehr ist es nicht, was wir tun. Es ist genug. Genug, um die Welt hinter sich zu lassen. Genug, um dich ohne Worte zu verstehen. Genug, um alles zu vergessen. Genug, um glücklich zu sein.

Darauf läuft alles hinaus, Glück. Ein hauchdünner Faden, der nur noch an unseren Fingerspitzen hängt. Er ist da. Das ist er! Der Grund, warum der eine bei Platon zurückkehrt. Weil der Faden herunterfällt, wenn nur ein Finger ihn hält.

Wir schweben zwischen den Welten. Nur wir. Und zwischen uns das Glück. Ich sehe die Welt, aus der wir kommen. Die Fesseln. Alles so vertraut und doch so leer. Dennoch sind Dinge dort passiert. Das weiß ich. Ich habe dort begriffen. Und wohl nicht nur ich. Auf der anderen Seite die neue Welt. Die wahre, echte. Ein neues Leben würde ich dort beginnen. Ein Leben mit dir. Und sie ist so schön, so vollkommen, so wahr und echt, wie ich noch nichts gesehen habe. Leer.

Ich weiß, ich muss mich entscheiden. Und ich weiß, wenn ich es getan habe, dann wird der Faden zwischen uns ins Nichts fallen. Denn ich muss gehen. Zu meinen Bildern. Und Wörtern. Allotria. Es tut mir leid. Deine Welt ist das Glück. Meine Welt sind die Wörter und Bilder. Dort habe ich nur Platon und mich. Mehr brauche ich nicht. War er denn nicht auch in Fesseln? Wenn Platon leben konnte, dann kann ich das auch.

Das hier ist eine Geschichte. Ich habe sie geschrieben. Das alles ist nicht passiert. Jetzt, wo es dasteht, da wird es wahr. Solange warte ich. Allotria. Hier wirst du mich finden. Hier wirst du mich erkennen. Denn ich weiß nicht, wer du bist. Ich weiß nur, dass du kommst. Und dann rennen wir.

Autorin: Johanna K., 12 Jahre alt (zum Zeitpunkt der Texterstellung)

Der Text entstand im Rahmen der Schreibwerkstatt im Münchner Künstlerhaus zum Thema „Geschichten hinter historischen Mauern“ unter Leitung von Gitta Gritzmann. Wir danken dem Münchner Künstlerhaus herzlich für die sehr gute Kooperation.

 

Copyright Foto: Ursula Weber

Johannas Text „Platon und ich“ wurde von dem Schauspieler und Moderator Alexander Nadler eingesprochen.